Innere Unruhe, Konzentrationschwierigkeiten und impulsive Handlungen sind die typischen Probleme von Erwachsenen mit ADHS. Je stärker sie ausgeprägt sind, desto mehr kommt es im Alltag zu Stress und Konflikten mit Familie und Arbeitskolleg*innen. Um den Druck zu mindern, ist eine effektive Therapie nötig. Neben Medikamenten helfen dabei eine kognitive Verhaltenstherapie und lebenspraktische Tipps.
Bis zu 5% der Erwachsenen betroffenen
Die Aufmerksamkeitsdefizit/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist schon lange bekannt, tauchte aber zunächst unter anderen Namen auf. Zum Beispiel im 1845 erschienenen Kinderbuchbuch „Der Struwwelpeter“: Darin spiegelten der Zappelphilipp die motorische Unruhe und Hanns-Guck-in-die Luft die Unaufmerksamkeit. Wenige Jahre danach beschäftigten sich die ersten Kinderärzt*innen mit dem Syndrom, verknüpften es allerdings mit einer Intelligenzminderung. Schließlich ordnete 1902 ein britischer Arzt die Erkrankung wissenschaftlich ein: Er beschrieb Kinder mit ausgeprägter Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität bei sonst normaler Intelligenz.
In den 1980er-Jahren stellte sich mehr und mehr heraus, dass auch Erwachsene unter ADHS-Symptomen leiden können. Heute gilt ADHS als eine lebenslange neurobiologische Entwicklungsstörung, die fast immer im Kindesalter beginnt und bei vielen Betroffenen bis ins Erwachsenenalter bestehen bleibt.
In Deutschland leiden etwa 5-10 % der Kinder und Jugendlichen an ADHS, und etwa 60 % nehmen die Störung ins Erwachsenenalter mit. Das führt dazu, dass 2-5 % der Erwachsenen in Deutschland davon betroffen sind. Manchmal kommt es auch erst im Erwachsenenalter zur Diagnose, z. B. wenn die ADHS-Symptome zu Problemen im Arbeitsleben oder in Beziehungen führen. Dann ist die Störung jedoch nicht neu entstanden. Stattdessen wurden die entsprechenden Verhaltensweisen im Kindesalter nicht richtig gedeutet oder übersehen.
Hinweis: Bei den Kindern und Jugendlichen leiden überwiegend Jungen an ADHS. Im Erwachsenalter ist das anders: Hier sind Frauen und Männer etwa gleich häufig betroffen.
Aktivierungsmuster im Gehirn verändert
ADHS beruht auf Störungen in bestimmten Hirnregionen. Studien konnten zeigen, dass bei ADHS-Kranken das Gehirnvolumen im Vergleich zu Gesunden etwas verringert ist. Auch die Aktivierungsmuster im Gehirn unterscheiden sich, betroffen ist dabei u.a. der Botenstoff Dopamin. Warum es zu diesen Veränderungen kommt, ist noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich handelt es sich um ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren, die vor, während und kurz nach der Geburt auf das Gehirn des Kindes einwirken.
Da ADHS gehäuft in Familien vorkommt, ist eine genetische Beteiligung wahrscheinlich. Die Veranlagung kann also vererbt werden, wobei nicht ein einzelnes, sondern eine Vielzahl von Genen daran beteiligt sind. Hinzu kommen äußere Einflüsse. Rauchen in der Schwangerschaft soll das Risiko für ADHS beim Kind erhöhen, Gleiches gilt für Alkohol. Weitere Risikofaktoren sind Frühgeburt und ein geringes Geburtsgewicht, aber auch Vernachlässigung in der Kindheit (Heimaufenthalte, schwierige Beziehungen zu den Eltern) werden diskutiert.
Hinweis: Lange wurde diskutiert, ob eine zuckerreiche Ernährung oder die Einnahme von Acetylsalicylsäure (Aspirin) ADHS auslösen könnten. Das ist inzwischen ebenso widerlegt wie die Annahme, dass eine strenge Erziehung dazu führt.
Innere Unruhe und Probleme im Alltag
ADHS beruht bei Kindern und Erwachsenen auf den gleichen Veränderungen im Gehirn. Hyperaktivität, gestörte Aufmerksamkeit und Impulsivität äußern sich nur etwas unterschiedlich. Die bei Kindern oft überaus starke motorische Aktivität verlagert sich bei Erwachsenen häufig nach innen.
Insgesamt variieren die ADHS-Symptome auch bei Erwachsenen sehr. Nicht bei allen sind die Symptome gleich stark ausgesprägt und entsprechend unterschiedlich beeinflussen sie das Leben der Betroffenen.
- Aufmerksamkeitstörungen führen dazu, sich nur kurz auf eine Sache konzentrieren zu können. Typisch sind sprunghaftes Denken, leichte Ablenkbarkeit und viele Flüchtigkeitsfehler. In manchen Fällen kommt es auch zur sogenannten Hyperkonzentration. Das bedeutet, dass eine Person sich über einen längeren Zeitraum extrem intensiv auf eine bestimmte Tätigkeit oder ein Thema konzentrieren kann – oft so sehr, dass die Umgebung und die Zeit ausgeblendet werden.
- Innere Unruhe und Überaktivität äußern sich bei Erwachsenen eher weniger durch Herumrennen und Herumhüpfen. Stattdessen überwiegen eine starke innere Anspannung, Nervosität und Fingertrommeln oder Fußwippen.
- Eine verstärkte Impulsivität zeigt sich nicht nur in spontanen Entscheidungen und vermehrtem unüberlegtem Handeln. Typisch ist auch ein verstärkter Redefluss, die Tendenz, andere zu unterbrechen und schnelle Stimmungswechsel.
Für ADHS-Betroffene ist es oft problematisch, die eigenen Gefühle zu kontrollieren. Die geringe Frustrationstoleranz führt dazu, dass Misserfolge oder negative Gefühle schwer auszuhalten sind. Ihre Reizbarkeit ist hoch, manche neigen auch zu Jähzorn.
All diese Reaktionen und Verhaltensweisen können dazu führen, dass Menschen mit ADHS große Probleme mit der Organisation ihres Alltag haben. Es fällt ihnen schwer, ihre Zeit einzuteilen und Ziele zu erreichen. Sie vergessen leicht Termine und verlegen Gegenstände, von außen wirken Wohnung und Arbeitsbereich häufig chaotisch. Das alles führt leicht zu Konflikten mit Familie, Freunden und Arbeitskolleg*innen.
Hinweis: Manche Menschen nutzen ihre ADHS-typischen Eigenschaften wie z. B. verstärkte Kreativität oder Spontaneität auch positiv. Besonders in der Musikszene und im Filmgeschäft gibt es dafür Beispiele (Justin Timberlake, Emma Watson u.a.).
Ist es ADHS?
Ein Großteil der ADHS-betroffenen Erwachsenen kennt ihre Diagnose seit der Kinder- und Jugendzeit. Bei ihnen gilt es, die Behandlung von der Kinder- und Jugendpsychiater*in zur Erwachsenenpsychiater*in zu überführen. Manche Männer und Frauen leiden jedoch seit ihrer Kindheit unter ADHS-Symptomen, ohne dass diese der Störung zugeordnet werden. Insbesondere Frauen schaffen es oft, ihre Probleme jahrelang zu kompensieren. Doch in Zeiten, in denen neuer oder verstärkter Druck ins Leben kommt, gelingt das meist immer schlechter. Dazu gehören Prüfungen, der Übergang ins Arbeitsleben oder veränderte soziale Strukturen wie eine festen Beziehung. Dann stellt sich manchen die Frage, ob ihre Beschwerden noch „normal“ sind oder auf einer ADHS beruhen – dies gilt umso mehr, seit ADHS vermehrt in den Medien thematisiert wird.
Im Internet gibt es eine Reihe von ADHS-Tests, die bei einem Verdacht helfen können. Eine Diagnose kann man damit nicht stellen, dafür ist eine ärztliche Untersuchung erforderlich. Wer unter starkem Leidensdruck steht und bei sich ADHS vermutet, sollte deshalb versuchen, dies bei einer Psychiater*in oder einer ärztlichen Psychotherapeut*in abklären zu lassen.
Für die Diagnose ADHS bei Erwachsenen gilt es zu prüfen, ob die Kriterien für Hyperaktivität, Impulsivität und/oder Unaufmerksamkeit erfüllt sind. Diese Kriterien sindin medizinischen Leitlinien festgelegt. Außerdem müssen die Beschwerden seit der Kindheit vorliegen, aktuell mindestens sechs Monate anhalten und berufliche und soziale Beeinträchtigungen verursachen.
Um das herauszufinden, führt die Ärzt*in ein ausführliches Gespräch mit der Patient*in. Dabei lässt sie sich nicht nur die aktuellen Symptome und schildern, sie fragt auch nach Verhaltensauffälligkeiten in der Kindheit und im Jugendalter. Wichtige Werkzeuge dafür sind standardisierte Fragebogen wie die Connor´s Adult ADHD Rating SCALE (CAARS). Um die Treffsicherheit der Diagnose zu verbessern, hilft die Befragung von nahen Angehörigen – sofern die Patient*in damit einverstanden ist.
Viele der ADHS-Beschwerden ähneln den Symptomen bei Suchterkrankungen oder bei Persönlichkeitsstörungen. Die Ärzt*in muss deshalb genau unterscheiden, um welche Ursache es sich handelt. Erschwerend kommt hinzu, dass ADHS-Betroffene relativ häufig weitere neuropsychiatrische Erkrankungen aufweisen, etwa Angststörungen oder Depressionen.
Lebensstiländerung und Psychotherapie
Die Behandlung von ADHS erfolgt mit Psychotherapie und Medikamenten. Insbesondere bei leichter Problematik sind Lifestylemodifikationen und eine Verhaltenstherapie hilfreich. Reichen diese Maßnahmen nicht aus, kommen Medikamente hinzu. Unterstützend bei einer ADHS-Behandlung ist regelmäßiger Sport. Dabei werden Botenstoffe wie Dopamin und Noradrenalin freigesetzt, die positiv auf neurobiologische Prozesse im Gehirn wirken. Außerdem bessert Sport die Impulskontrolle und reduziert Stress und innere Unruhe. Daneben ist es wichtig, ausreichend zu schlafen.
Die ständige Flut an Informationen und schnellen Reizen durch digitale Medien kann die Aufmerksamkeit zerstreuen und dadurch ADHS-Symptome verstärken. Menschen mit ADHS sollten deshalb ihre Bildschirmzeit regulieren. Das gilt umso mehr, als dass ADHS-Betroffene besonders leicht internetsüchtig werden. Der Grund hierfür ist die schnelle Belohnung im Gehirn (Dopaminausschüttung) bei Nutzung digitaler Medien. Weil der Dopaminhaushalt bei ADHS oft gestört ist, wird die Dopaminausschüttung besonders intensiv erlebt.
Neben diesen Lebensstilanpassungen sind psychotherapeutische Verfahren ein unverzichtbarer Bestandteil der Behandlung. Besonders wirksam ist die kognitive Verhaltenstherapie. Studien haben gezeigt, dass sie das Zeitmanagement, die Bewältigung des Alltags und das Wohlbefinden deutlich verbessern kann. Ein weiterer zentraler Schwerpunkt ist die sogenannte Psychoedukation. Die Patient*innen sollen die Erkrankung besser verstehen und akzeptieren, um dadurch besser mit ihr umgehen zu können.
- Für ein besseres Zeitmanagement und eine bessere Organisation im Alltag dienen Strukturierungsstrategien wie Prioritätenlisten, Mindmapping und eine strikte Kalenderführung. Bei der Pomodoro-Technik wird die Arbeit in 25-Minuten-Intervalle eingeteilt, die Salamitaktik bedeutet das schrittweise Zerlegen von Aufgaben in Teilaufgaben. Beides hilft ADHS-Betroffenen, ihren beruflichen und familiären Alltag besser zu bewältigen.
- Mittels Impulskontrollübungen sollen Betroffene lernen, besser mit emotional herausfordernden Situationen umzugehen. Dabei helfen der innere Dialog und die Neurofeedbacktherapie, bei denen die Selbststeuerung gefördert wird. Dazu kommen Kommunikations- und Konfliktmanagementtraining und das Erlernen von Meditation und Atemübungen.
- Gegen die innere Unruhe empfehlen Expert*innen neben regelmäßigem Sport auch spezielle Bewegungstherapien (z. B. Yoga) und Entspannungsverfahren. Besonders empfehlenswert ist die Gruppentherapie. Unter Mitbetroffenen kann man Strategien gegen verstärkte Impulsivität oder Gefühlsstörungen erproben. Darüberhinaus hilft die Gruppe, das Gefühl der Isolation zu durchbrechen. Verbessert wird die Lebensqualität auch durch den Erfahrungsaustausch mit Selbsthilfegruppen.
Tipp: Im Juli 2025 wurde in Deutschland die erste digitale Gesundheitsanwendung (DIGA) für ADHS zugelassen. Mit Tagebuchfunktionen, ADHS-Tipps und fundiertem ADHS-Wissen unterstützt die App Betroffene, mehr Ordnung in ihrem Kopf und ihrem Leben zu schaffen. Bei Verordnung durch eine Ärzt*in übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten.
Medikamente gegen ADHS
Wenn die nicht-medikamentösen Maßnahmen nicht ausreichen, den Leidensdruck zu lindern, kommen Medikamente ins Spiel. Als Substanzen erster Wahl gelten laut Leitlinie Stimulanzien wie Methylphenidat und Amphetamine (Lisdexamfetamin). Sie verbessern vor allem die Aufmerksamkeit und die Impulskontrolle. Werden diese Medikamente nicht vertragen oder besteht gleichzeitig eine Suchterkrankung, ist das nicht-stimulierende Atomoxetin eine Option. Es gibt mehrere Krankheiten, bei denen die beiden stimulierenden Medikamente nicht eingenommen werden, zum Beispiel bei Schilddrüsenüberfunktion. Von einer Selbstmedikation ist also in jedem Fall abzuraten.
Außerdem ist es wichtig, die Medikation regelmäßig ärztlich kontrollieren zu lassen. Dabei wird geprüft, ob das Medikament wirksam ist oder evtl in der Dosierung gesteigert werden sollte. Wichtig ist auch, Nebenwirkungen abzufragen und frühzeitig zu erkennen. Einmal jährlich wird – unter ärztlicher Betreuung – ein Absetzversuch empfohlen. Damit lässt sich erkennen, ob das Medikament noch erforderlich ist oder ob es auch ohne geht.
- Methylphenidat und Lisdexamfetamin können zu Appetitverlust, Schlafstörungen, Nervosität, Herzrasen und erhöhtem Blutdruck führen.
- Bei Atomoxetin dauert es bis zu sechs Wochen, bis das Medikament seine Wirkung entfaltet. Häufige Nebenwirkungen sind ebenfalls Appetitverlust und Schlafstörungen, aber auch Übelkeit, sexuelle Dysfunktion und depressive Verstimmung.
Hinweis: Koffein kann die Wirkung der stimulierenden Medikamente verstärken und dadurch das Risiko für Nervosität und Herzrasen erhöhen. Vor allem in der Anfangsphase der Medikamenteneinnahme sollte der Kaffeekonsum deshalb eingeschränkt werden.
Quellen: S3-Leitlinie ADHS, Springer Medizin